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Hilfreich oder hilflos? Was hilft bei bipolarer Störung? (14 Antworten)

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Hallo.
Dieses Thema beschäftigt eigentlich alle Betroffenen, und auch Angehörige.
Welche Strategien helfen, welche Medikamente, welche Therapien?
Woran erkenne ich Hilfreiches, und manchmal noch viel wichtiger - woran erkenne ich, was nicht hilfreich ist, und worauf man seine Hoffnungen nicht stützen sollte?

Erst einmal - das Manisch-Depressive, die starken reinen Affektiverkrankungen, das Bipolare ist wahrscheinlich etwas, dass quasi beschrieben wird, seit es Beschreibungen von Temperamenten und ihren Störungen gibt, seit der frühesten Zeit der Medizin und der Beschäftigung mit Psyche und ist wahrscheinlich älter als die Geschichtsschreibung. Also ein uraltes Krankheitsbild, dass die Medizin schon vor Jahrtausenden kennt.
Insofern ist sind bipolare Störungen nur als Begrifflichkeit neu und existieren als das Manische und das Depressive quasi ewig. Ernsthafte moderne Versuche wirklicher Behandlung mit zum Teil drastischen Methoden gibt es vielleicht gerade mal ein Jahrhundert, erste gute Dauererfolge basieren zu überwältigender Mehrheit auf der ersten und gleichzeitig auch statistisch am Besten abschneidenden medikamentösen Dauertherapie mit einem Medikament, dessen genaue Wirkmechanismen noch längst nicht vollständig entschlüsselt sind, dem Lithium, seit etwa 60 Jahren. Es folgten einige weitere medikamentöse Ansätze, die sich nach und nach für bestimmte Betroffene als hilfreich herausgestellt haben. Also ist (moderne) medikamentöse Therapie ein jüngeres Verfahren, als alle anderen medizinischen Verfahren, die vorher versucht wurden. Gesprächstherapien gab es auch schon weit länger, wenn man vorpsychologische Verfahren, in denen mit Betroffenen geredet wurde, mit einkalkuliert, wie z.B. religiöse Seelsorge und Ähnliches.
Wie erkennt man also heute, welches wirksame Verfahren - und vielleicht noch viel wichtiger - für einen ganz persönlich wirksame Verfahren für einen in Frage kommen?

Zu den absolut wichtigsten Dingen, die man über bipolare Störung weiss, gehört, nach welchem Modell sie höchstwahrscheinlich ausgelöst wird. Ein Modell, über das in der Wissenschaft heute ein sehr großer Konsens besteht.
Dies ist das Vulnerabilitäts-Stress-Modell, nach dem eine biologische Vulnerabilität, also eine Verletzlichkeit beim Betroffenen besteht, die latent vorhanden ist, die eine erbliche Komponente hat, zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben einem Stressmoment ausgesetzt ist, welches die erste akute und eindeutige Krankheitsphase auslöst. Davor können leichtere Vorzeichen der Instabilität auftauchen, die sich aber z.B. entweder noch außerhalb des vollen Krankheitsbildes bewegen (z.B. erst einmal "nur" Depressionen oder unspezifischere Verhaltensauffälligkeiten oder auch Psychosomatik oder Ähnliches, auch typische Komorbiditäten) oder aber die noch nicht krankheitswertig sind, aber auch schon auf ausgeprägte Stimmungs- oder Antriebsschwankungen hinweisen.
Das Stressmoment, das dann die erste volle Krankheitsphase oder auch gleich einen ersten Phasenzyklus mit sich bringt, kann durchaus auch traumatischen Charakter haben.
Vergleichbar wäre das mit dem Bild eines Deiches, der eine Schwäche an einer bestimmten Stelle hat (Vulnerabilität). Dieser mag vielen ganz normalen Wasserspiegelschwankungen (Stress) standhalten, ganz normalen Ebbe- und Flutzyklen. Bei einer starken Springflut hingegen reisst er an dieser Schwachstelle ein und lässt zu, dass das Hinterland mit manchmal dramatischen Folgen unkontrolliert geflutet wird (Krankheitsphase). Ab dann ist der Deich dann auch für zukünftige Fluten dann deutlich anfälliger, die regelmäßigen Ebbe- und Flutbewegungen verursachen oft häufig und meist regelmäßig diese mehr oder weniger gefährlichen Überschwemmungen (Symptomstärke), die es vorher nicht gab. Abhängig vom (sozusagen persönlichen) Ebbe- und Flutrhythmus und der Höhe dieser Schwankungen (Stärke der Belastung).
Ist dieser Damm erst einmal eingerissen, so kann er erst einmal nicht repariert werden. Wie man ihn repariert ist nicht bekannt. (Unheilbarkeit nach heutigem Stand der Wissenschaft)

Welche Methoden also heute wahrscheinlich wirksam sind, kann vom Laien vor allem durch Eines herausgefunden werden, nämlich, ob die Wirksamkeit der Methode darauf ausgerichtet ist, Stress zu reduzieren.
Mit Stress ist jede Form von Stress gemeint, denn wirklich jede Art von Stress kann eine Krankheitsphase auslösen, je höher die Belastung, desto wahrscheinlicher eine Krankheitsphase.

So sind zunächst einmal alle Verfahren, die der Stressbewältigung vom Prinzip her dienen, mehr oder weniger innerhalb bestimmter Grenzen geeignet.
Einige Methoden aber bergen Gefahren und sind deshalb nur sehr bedingt bis gar nicht zu empfehlen.
Denn auch positiver Stress kann Phasen auslösen. So gilt also vor allem Eines - alles in Maßen.
Ein Beispiel: Meditation. Meditation kann z.B. Euphorie auslösen, ein starker positiver Stressor. Auch halluzinatorische Zustände können durch Meditation auftreten, ein starker Stressor bei Neigung zu psychotischen Symptomen.
Gleiches kann man über viele Sportarten sagen. In Maßen auf jeden Fall gesund und zur Stressvorbeugung und zum Abbau geeignet kann das Übermaß ebensolche für bipolare Menschen gefährliche Zustände auslösen, eine Überlastung ist sowieso immer ein Stressor.
Auch Arbeit hat eine grundsätzlich stabilisierende Wirkung, solange sie eben keine Überlastung ist und z.B. Struktur und Sinn schafft. Aber eben nur dann.
Soziale Bindungen sind ebenso stabilisierend, solange sie nicht überreizen, zu problematisch sind, zur Belastung werden.

Die größten Stressoren allerdings sind eigentlich immer ganz grundsätzliche Dinge, die für jeden Menschen Stress bedeuten, z.B. die menschlichen Grundbedürfnisse, bzw. die Vernachlässigung derselben.
Das sind ganz unbedingte Basics.
Viele lassen sich situationsabhängig vermeiden, manche situationsbedingt auch nicht.
Also körperliche Stressoren wie Hunger, Durst, Störungen des Schlafbedürfnisses, Nichteinhaltung von Ruhezeiten, Erholungsmangel, zu wenig Bewegung, aber eben auch rein psychische Bedürfnisse, die nicht erfüllt werden, z.B. fehlende Anerkennung, nicht lösbare starke Ärgernisse, mangelnde Sicherheit durch z.B. Existenzsorgen, Probleme am Arbeitsplatz, in der Beziehung, in der Familie, fehlende Freunde, mangelnde soziale Einbindung, fehlende Ausgeglichenheit durch Lebensereignisse wie z.B. starke Trauer oder starke Freude durch Dinge wie Geburt eines Kindes, Tod eines Angehörigen oder Freundes bis hin zu Dingen wie Mobbingsituationen, Beförderungen, Familienfeiern usw..

Therapieformen, die sich damit beschäftigen, was bei Einem gefährlichen Stress und potentiell Phasen auslöst, sind z.B. die uneingeschränkt empfohlenen Psychotherapien Psychoedukation und kognitive Verhaltenstherapie.

Aber im Prinzip sind auch andere Therapien, die sich z.B. mit den "inneren Stressoren" auseinandersetzen, die helfen, das Leben ruhiger und besser zu bewältigen, die auch helfen, eventuelle weitere psychische Probleme außerhalb der BS zu bewältigen, die Stress erzeugen können, erst einmal hilfreich, solange sie nicht selbst verfahrensbedingt stark belastende Momente beinhalten, und somit selbst mögliche Auslöser darstellen können.

Auch die Beratung in Krisensituationen durch Nichtmediziner kann äußerst hilfreich sein, z.B. durch erfahrene Sozialarbeiter oder ähnliche Fachkräfte, der Austausch mit anderen Betroffenen, z.B. in Selbsthilfegruppen.

Jedoch kann keines dieser Verfahren einen unbedingten Standpfeiler für den ganz überwiegenden Anteil der Betroffenen ersetzen, nämlich medikamentöse Therapie.
Woran erkenne ich also, welche Medikamente für mich in Frage kommen?

Erst einmal muss man feststellen, ob der Stoff, den ich mir zum Zweck der Behandlung zuführen will, wirklich überhaupt ein Medikament ist.

Illegale Drogen sind grundsätzlich keine Medikamente.
Sie mögen vielleicht die eine oder andere medikamentöse Eigenschaft haben, aber zum Ersten sind sie überwiegend bis ausschliesslich psychoaktive Rauschdrogen, und Rausch ist ein starker Stressor per se.
Zudem sind sie oft unvorhersehbar in der Wirkung, unkontrolliert, und nicht zuletzt eben illegal, was eine ganze Reihe weiterer Stressoren nach sich zieht.
Also Strafrechtliche, Soziale, aber auch rein emotionale, wie z.B. Angst vor Entdeckung, Strafverfolgung usw..

Legale Rauschdrogen, die frei verkäuflich sind, sind ebenfalls keine Medikamente.
Alkohol an allererster Stelle.

Nahrung und Nahrungsmittelzusätze. Diese sind per definitionem eben keine Medikamente.
Nahrung dient der Ernährung und somit der Erfüllung der Grundbedürfnisse. Insofern ist gute gesunde Ernährung natürlich wichtig. Siehe oben.
Dass bestimmte Nahrungsmittel oder Diäten "genauso wirksam" wie die individuell optimale professionelle Medikation sind, ist hingegen schlicht nicht wahr.
Einige wenige Nahrungsergänzungsmittel haben unter Umständen eine beschränkt positive Wirkung bei Affektiverkrankungen, die Omega-3-Fettsäuren sind bei einigen Krankheiten (nicht nur Depressionen) ganz hilfreich, aber im Bereich (mehr als leichte) Depression sieht der medikamentöse Erfolg (oder besser - insgesamt der medizinische statistische Erfolg) sowieso etwas bescheidener aus, da schneidet dann ein solches Mittel auch leichter gut ab.
Selbiges gilt für Johanneskraut, das immer wieder mal hochgelobt wird, allerdings in vielen käuflichen Formen oft sehr unkontrollierte Wirkstoffmengen und vor allem auch als Naturprodukt Wirkstoffgemische enthält, und zudem auch bis hin zu starke Nebenwirkungen haben kann, die denen stark nebenwirkungsbehafteter Medikamente in gar nichts nachstehen. Zudem ist dieser freiverkäufliche Stoff mit vielen Wechselwirkungen zu wirklichen Medikamenten behaftet, so dass die zusätzliche Einnahme wirkliche Gefahren birgt und mit einem Arzt unbedingt abgesprochen werden sollte.

Dies gilt übrigens für nahezu alle dieser freiverkäuflichen Mittel, solange sie nicht komplett wirkungslos sind.

Das bringt mich zu einer Besonderheit, die quasi per Gesetz bestimmten Mitteln den Arzneimittelstatus verleiht, der durch keinerlei Wissenschaft bewiesen ist, bzw, die sich nach allen Regeln der Naturwissenschaft als wirkungslos bezeichnen lassen, und deren positive Wirkung ausschliesslich auf Glauben, dem Brimborium drumherum usw. beruht, nämlich der reinen Placebowirkung.
Zu diesen Stoffen gehoren Bachblüten, homöopatische Mittel usw.. Diese sind weitgehend bedenkenlos. Wer gerne Wasser und Zucker oder Füllstoffe zu sich nimmt, kann diese nehmen. Tatsächlich sind die "niedrig-potenten" Homöopatika wesentlich gefährlicher, als die "hoch-potenten", da sie teilweise tatsächlich noch Wirkstoffe enthalten, und man sich unter Umständen vergiften könnte, z.B. mit einer Überdosis eines Arsen-Präparats. Aber wie gesagt, die angeblich besonders wirkungsvollen darf man gerne in großen Mengen zu sich nehmen, man sollte nur auf die Kalorien achten, die die Zuckerpillen haben, vor allem bei Diabetes.

Geeignete Medikamente zur bipolaren Störung erkennt man vor allem an zwei Sachen - der Empfehlung in der S3-Leitlinie zur Behandlung bipolarer Störungen, verlinkt z.B. auf der DGBS-Seite, und dadurch, dass diese einem durch einen geeigneten Facharzt, d.h. einem Psychiater oder Neurologen verschrieben wurden.
Es lohnt sich also, sich in die medizinischen Informationen zur bipolaren Störungen einzulesen (z.B. hier im Forumsteil Informationen zur bipolaren Störung und in Fachliteratur). Dies erleichtert einem die Mitbestimmung bei der eigenen Behandlung in Gesprächen mit dem behandelnden Arzt weitestmöglich auf Augenhöhe.

Weitere direkt wirksame medizinische Verfahren sind noch zu nennen, insbesondere der kontrollierte Schlafentzug, der hin und wieder auch kritisch in bezug auf Switchgefahr genannt wird, aber eine immens hohe Erfolgsrate bei der kurzfristigen (leider im Endeffekt nur eintägigen) Verbesserung/Unterbrechung von selbst starken Depressionen hat, und die ebenfalls äußerst wirksame EKT (Elektrokonvulsivtherapie), die allerdings oft nur nach gescheiterten oft langwierigen medikamentösen Therapieversuchen gemacht wird, und zu Unrecht immer noch etwas verschrieen ist. Sie ist übrigens auch bei Manie wirksam und hat somit meines Wissens kein Manie-Switch-Risiko.

Neurochirurgische Verfahren sind noch wenig im Einsatz und gelten als experimentell und werden nicht in der normalen Behandlung der BS eingesetzt.
Das bekannteste dieser Verfahren war die klassische Lobotomie, deren "Erfolgsgeschichte" sich am Ende als höchst fragwürdig darstellt, die letztlich gefährlich war und deren Erfolge vom verbreitenden Arzt schlichtweg durch unwissenschaftliche Dokumentation und mangelnde Nachverfolgung als gefälscht angesehen werden dürfen. Dieses Verfahren wird aus gutem Grunde nicht mehr eingesetzt und ist für den heutigen generell schlechten Ruf des neurochirugischen Ansatzes bei psychischen Erkrankungen verantwortlich.

Wellness - ist das hilfreich?
Ja, alles, was Stress vermindert und einem guttut, ist erst einmal nicht schlecht.
Aber - Wellness ist keine medizinische Behandlung und kann diese keinesfalls ersetzen.
Esoterische Verfahren, "Medikamente" usw...?
Hier ist vor allem darauf zu achten, dass es nicht schadet.
Verfahren, die auf reinem Glauben beruhen, auf "positivem Denken", Verfahren, die davon ausgehen, dass der Erfolg auf "Willen" beruht, Verfahren, die demjenigen, dem sie nicht hilft, mangelnde Ausdauer(ohne Angabe genauer Zeitrahmen)/Willen/Überzeugung/Schuld/o.ä. vorwerfen, sind mit allerallerallergrößter Wahrscheinlichkeit nicht hilfreich, bzw. bergen diese großes (schädliches) Stresspotential durch Frustration, Scham oder Schuldgefühle bei Nichterfolg. Dies gilt meines Erachtens auch für alle Behandlungen, selbst z.B. Psychotherapien und andere medizinische Behandlungen, bei denen bei denen bei Nichterfolg irgendwo der Wille angezweifelt wird, oder Krankheit mit Schuld in Verbindung gebracht wird. Ein Behandler, der dies tut, ist meines Erachtens prinzipiell ungeeignet.
Krankheit ist keine Frage von Schuld, bipolare Störung ist keine Frage des Glaubens oder gesunden freien Willens, in Krankheitsphasen ist dieser fast automatisch eingeschränkt und zumindest gestört, und kann deswegen bei wirklich wirksamen Verfahren logischerweise nicht Voraussetzung zum Erfolg sein.

Also Augen auf bei der Mitbestimmung und Wahl der persönlichen Behandlung und gutes Gelingen und viel Glück,
LG,
M.

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